Die Tarifrunde 2021 in der deutschen Metall- und Elektroindustrie findet in einer außergewöhnlich schwierigen Situation statt. Die Unternehmen des bedeutendsten Industriezweigs unseres Landes stecken seit zwei Jahren in der Rezession. Viele Betriebe machen einen tiefgreifenden Strukturwandel durch und spüren seit Anfang 2020 dazu noch schmerzlich die Auswirkungen der Coronakrise.
Keine einfachen Ausgangsbedingungen für die Tarifparteien. Sie müssen wie schon im März dieses Jahres einen echten Spagat hinbekommen. Weil sich die wirtschaftliche Lage aktuell und auch die absehbaren Perspektiven nicht gedreht haben, muss auch der nächste Tarifabschluss dem ruppigen Umfeld genauso gerecht werden wie er den massiven Veränderungsdruck der Betriebe zu berücksichtigen hat. Der Flächentarif steht damit vor einer weiteren großen Bewährung.
Der Befund der letzten Monate spricht eine klare Sprache: Zweistellige Minusraten bei Aufträgen, Produktion, Umsätzen in vielen Unternehmen, dazu allein in NRW mehr als 60 Prozent der M+E-Betriebe, die gegenwärtig in Kurzarbeit arbeiten und heute schon wissen, dass sie dies mindestens im nächsten Halbjahr auch noch tun werden. Zur Wahrheit gehört auch, dass die Firmen nach wie vor versuchen, ihre Belegschaften möglichst komplett an Bord zu halten. Und das, obwohl der Druck auf die Unternehmen von Tag zu Tag zunimmt, da die Liquiditätsengpässe nicht kleiner werden und der Verzehr von Eigenkapital seit Beginn der Pandemie erheblich ist.
Weil die Beschäftigung unverändert hoch ist und auch die Einbußen der Kurzarbeit durch umfangreiche Aufstockungsleistungen unter dem Strich verkraftbar sind, mangelt es den Mitarbeitern – sie verdienen im bundesweiten Schnitt rund 60.000 Euro im Jahr – keineswegsan Kaufkraft. Das eigentliche Problem für unsere Volkswirtschaft liegt vielmehr in derzurückhaltenden Konsumneigung der Menschen, weil sie Sorge um ihren Job haben und deshalb ihr Geld lieber auf die hohe Kante legen. Schon um der Arbeitsplatzsicherheit willen dürfen wir unseren Firmen keine weiteren Belastungen bei den Arbeitskosten zumuten.
Die IG Metall spricht zu recht von einer heterogenen wirtschaftlichen Lage in der deutschen Metall- und Elektroindustrie. Hierfür muss kluge Tarifpolitik eine tragfähige Lösung finden – sowohl für die Mehrzahl der Betriebe, die in einer tiefen Krise stecken als auch für jene, die gut durch die Pandemie kommen. Es ist eine komplexe Gemengelage, die nach einem neuen und möglichst einfachen Ansatz in der Tarifpolitik ruft.
Bisher galt das Durchschnittsprinzip: Ging es dem Durchschnitt der Unternehmen unter dem Strich wirtschaftlich gut, wurde eine allgemeine Tabellenerhöhung vereinbart, die alle tarifgebundenen Betriebe verkraften mussten. Mit Sondertarifverträgen konnten Tarifabschlüsse in Ausnahmefällen korrigiert werden, die von den verhandelten Entgeltzuwächsen überfordert waren. Dieses Procedere wird im Jahr 2021 schon deshalb nicht funktionieren, weil zusätzliche Kostenlasten gegenwärtig für die Mehrheit unserer Betriebe nicht verkraftbar sind. Deshalb werden wir einen differenzierenden Abschluss finden müssen.
Obwohl der IG Metall die komplexe Ausgangslage bewusst sein dürfte, hat sie mit ihrer Forderung nach vier Prozent mehr Entgelt, das gegebenenfalls für arbeitsplatzsichernde Maßnahmen eingesetzt werden soll, tief in die Trickkiste gegriffen. Erst die Kosten erhöhen, um dann eben darauf zu verzichten bzw. einen Teilentgeltausgleich bei Einführung einer Vier-Tage-Woche zu finanzieren, das klingt nach Münchhausen. Sich so quasi am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, das funktioniert nur im Märchen.
Wir brauchen einen realistischen tariflichen Ansatz, der die Lasten der von Arbeitgebern und Gewerkschaft gewünschten Beschäftigungssicherung fair verteilt. Dies ist uns schon einmal in der Lehman-Krise 2010 mit dem damals in NRW ausgehandelten Tarifabschluss gelungen. Deshalb bin ich da auch vorsichtig optimistisch. Wir brauchen erneut eine solch sozialpartnerschaftliche Lösung – am besten mit einer belastbaren Perspektive über das Jahr 2021 hinaus.
Zum Perspektiv-Charakter des nächsten Abschlusses gehören auch tarifliche Antworten auf die Umwälzungen, die Strukturwandel und Digitalisierung unseren Unternehmen aufbürden. Auch hier ist filigranes und nicht holzschnittartiges Vorgehen gefragt. Die Tarifparteien müssen diese Entwicklung begleiten, ohne in die Entscheidungsprozesse von Unternehmen regulierend einzugreifen. Gefordert ist ein tarifpolitischer Instrumentenkoffer, dem die Betriebsparteien das geeignete Besteck entnehmen können, um im Einzelfall auf die Herausforderungen des Wandels reagieren zu können.
So müssen wir in diesen Fällen vorhandene tarifliche Bremsen lösen, wenn ein Unternehmen mit der vollständigen Belegschaft in eine neue Zeit gehen will. Entscheidet sich etwa ein Unternehmen für eine Vier-Tage-Woche, um den fünften Tag für Qualifizierung zu nutzen, kann das der richtige Weg sein. Doch was für den einen Betrieb gut ist, muss noch lange nicht für andere Unternehmen sinnvoll sein. Deshalb darf der Flächentarif Unternehmen nicht in Modelle zwingen. Der enorme Qualifizierungs- und Arbeitsbedarf ist auch kein Anlass für kürzere Arbeitszeiten, sondern bedarf des flexiblen Einsatzes vorhandener Kapazitäten. Hier brauchen wir praxisnahe und verständliche tarifliche Angebote, die in den Betrieben einfach umzusetzen sind.
Die schwierige Tarifrunde 2021 wird so zu einem Belastungstest für die Tragfähigkeit der Sozialpartnerschaft in unserem Land. Um der Zukunft des Flächentarifs und der Sozialen Marktwirtschaft willen empfehle ich, dass die Verhandelnden gerade zu Beginn der Gespräche einander aufmerksam und neugierig zuhören. Aus meiner unternehmerischen Erfahrung weiß ich, dass Geschäftsleitungen kein Reservatrecht für gute Ideen haben. Der faire Austausch hilft immer, um den Ausgleich unterschiedlicher Interessen zu finden. Allerdings dürfen Unternehmer nicht durch tarifliche oder gesetzliche Reglementierung aus der Verantwortung gedrängt werden. Die Entscheidung über das weitere Vorgehen muss am Ende immer dem Unternehmer vorbehalten bleiben.
Der Gastbeitrag ist erschienen am 15.12.2020 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:
https://zeitung.faz.net/faz/wirtschaft/2020-12-15/e7496dc572f481a6116ccdabe8a885dd/?GEPC=s3