Herr Kirchhoff, Sie machen sich „große Sorgen“ um die Industrie und finden die Sieben-Prozent-Forderung der IG Metall „unverträglich“. Das sind die üblichen Töne von Arbeitgebern vor einer Tarifauseinandersetzung.
Nein, denn die Wirtschaftslage ist außerordentlich ernst. Das weiß auch die IG Metall. Zu Beginn dieses Jahres haben wir noch gedacht, spätestens in der zweiten Jahreshälfte könnte es besser werden. Das Gegenteil ist der Fall, es wird eher schlimmer.
Woran machen Sie das fest?
Die Kurzarbeitszahlen steigen und die Arbeitslosenzahlen auch, die Gewinne der Firmen schrumpfen, viele machen Verluste, die Nachfrage nach Investitionsgütern ist schwach, unsere Kapazitäten sind bei weitem nicht ausgelastet. Seit 2015 haben wir im Schnitt kein Produktivitätswachstum mehr. Die Produktivität ist aber der Maßstab für Tariferhöhungen.
Die Produktivität stagniert, weil die Firmen nicht genug investieren.
Das ist nicht richtig. Wir haben massiv investiert, etwa in die Elektromobilität, aber die Nachfrage ist nicht da. Die Verbraucher sind verunsichert und geben kein Geld aus. Und was die Unternehmen angeht: Wenn das Wachstum fehlt und Kapazitäten frei sind, dann investiert keiner. Dazu gibt es keine Planungssicherheit durch die Politik. Entweder entscheidet die Ampel gar nicht, oder es gibt Ad-hoc-Entscheidungen, die niemand nachvollziehen kann.
Was für Ad-hoc-Entscheidungen?
Von heute auf morgen wurde die Prämie für den Kauf eines Elektroautos gestrichen, auch der Murks um die Heizungen ist verheerend. Deren Hersteller haben massiv Kapazitäten aufgebaut, die jetzt zum großen Teil brachliegen; viele Firmen arbeiten deshalb kurz. Wer hat das denn angerichtet?
Die Diskussion über ein Aufschieben des Verbrennerverbots mit schlimmen Folgen für den E-Auto-Markt können Sie nicht der Regierung in die Schuhe schieben, das hat die Industrie angerichtet.
Zunächst: Die Wirtschaft steht zu den Klimazielen. Es müssen aber die Voraussetzungen stimmen, damit die ehrgeizigen Ziele auch erreicht werden können. Und das ist Sache der Politik. Wir liegen zurück beim Ausbau der Erneuerbaren Energien und der Netze, wir liegen zurück in der Digitalisierung, um das Netz smart zu machen. Wenn aber der Ausbau der Infrastruktur zu langsam erfolgt, müssen auch wir zwangsläufig das Tempo anpassen.
Warum sind wir so langsam?
Es werden noch immer zu viele Schleifen bei Planungs- und Genehmigungsverfahren gedreht, bevor ein Windrad, eine Brücke oder auch nur ein Haus genehmigt ist. Das nervt alle. Wenn die Menschen sehen würden, dass es endlich losgeht, dann kehrt auch Vertrauen zurück, und Firmen wie Verbraucher geben wieder Geld aus.
Kann es mit der Ampel noch „losgehen“?
Ich habe das immer geglaubt, aber jetzt erwarte ich nicht mehr viel, weil bald der Bundestagswahlkampf beginnt. Klar ist: In der Wirtschaftspolitik ist die Zeitenwende bisher nicht angekommen.
Überall fehlt Geld. Die Industrie beziffert den öffentlichen Investitionsbedarf in den kommenden zehn Jahren auf 600 Milliarden. Woher soll das Geld kommen, wenn die Politik auf der Schuldenbremse steht?
Die 600 Milliarden sind unstrittig. Trotzdem stehen wir zur Schuldenbremse. Die Politik fährt seit vielen Jahren die konsumtiven Ausgaben im Haushalt immer weiter hoch. Gegen diese Disziplinlosigkeit brauchen wir die Schuldenbremse. Auch mit Blick auf die Einstellungspolitik der öffentlichen Hand: Weil wir so bürokratisch sind, fordern die Verwaltungen immer mehr Personal – das ist ein Perpetuum Mobile.
600 Milliarden fallen nicht vom Himmel.
Ich habe grundsätzlich nichts gegen ein Sondervermögen, das ausschließlich für Investitionen genutzt wird.
Sind Sie, wie die IG Metall, für einen subventionierten Brückenstrompreis?
Ja. Die hohen Energiekosten sind einer der größten Wettbewerbsnachteile, insbesondere für unsere energieintensive Industrie. Gleichzeitig muss das Energieangebot größer werden, dann wird auch der Strom günstiger und sich die Dekarbonisierung vieler Bereiche rechnen. Das E-Auto würde übrigens auch attraktiver.
Die Transformation vom Verbrenner zum Elektromotor macht VW zu schaffen. Ist die Krise in Wolfsburg ein Einzelfall oder symptomatisch?
Es ist kein Einzelfall. Wir alle stecken in einer Komplexitätsfalle. Je größer ein Unternehmen ist, desto größer auch die Komplexität. Sowohl Politik und Verwaltung als auch die Unternehmen brauchen aber Geschwindigkeit. Im Übrigen hat VW auch einen teuren Haustarif. Die müssen also sehen, dass sie mit der IG Metall einen vernünftigen Tarifabschluss hinbekommen.
Wenn die Nachfrage schwach ist, wie Sie sagen, dann helfen Lohnerhöhungen.
Wir haben bereits ein sehr hohes Lohnniveau. Da dürfen wir nicht noch weiter weglaufen. Das osteuropäische Ausland holt zwar etwas auf, da gibt es inzwischen auch zweistellige Lohnerhöhungen, die haben sich die Menschen dort erarbeitet und verdient. Dennoch liegen wir in Polen zum Beispiel bei den Arbeitskosten erst bei 25 Prozent des deutschen Niveaus. Dabei arbeiten die Polen genauso gut wie wir in Deutschland.
Aber nicht so produktiv.
Da haben manche völlig falsche Vorstellungen. Unsere Mitarbeiter in Polen oder in Ungarn arbeiten mit denselben Maschinen und Anlagen. Die Menschen haben Ehrgeiz und arbeiten hart für ihre Ziele. Worauf ich hinaus will: Im Schnitt bekommt ein Metaller hier bei uns in NRW ein Tarifgehalt von 65.000 Euro. Das mag bisher funktioniert haben. Jetzt müssen wir aber aufpassen. Immer mehr Geld, im Zweifel auch noch für weniger Arbeit, das übersteigt vielerorts die Grenzen.
Die Reallohneinbußen aus der Coronazeit und der Energiekrise sind noch nicht ausgeglichen.
Wir sind sozialpartnerschaftlich gut durch die Pandemiekrise gekommen. Dann haben wir nachgeholt und mit 5,2 Prozent 2023 und 3,3 Prozent in diesem Jahr sowie der Inflationsprämie von 3000 Euro ordentlich draufgelegt. Das kann aber nicht so weiter gehen, wenn der Produktivitätsfortschritt bei null liegt. Und das Produktionsniveau in unserer Industrie liegt in NRW um 20 Prozent unter dem Niveau vor Corona. Wir haben eine Situation, in der wir uns mäßigen müssen.
In der Chemie gibt es 6,85 Prozent mehr, und der Chemie geht es auch nicht besser als der Metallindustrie.
Der Abschluss wäre für Metall zu hoch.
Die Industriearbeiter sollen den Gürtel enger ziehen, während die Aktionäre üppige Dividenden kassieren?
Es ist seit langem bekannt, dass die deutsche Industrie das Geld zum größten Teil im Ausland verdient. Damit haben wir viele Jahre lang Lohnzuwächse bei uns bezahlt. Wenn wir aber so weitermachen, würde dies noch stärker zulasten der Wettbewerbsfähigkeit unserer Arbeitsplätze hierzulande gehen. Das würde auch dazu führen, dass wir noch mehr im Ausland machen. Die Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandorts Deutschland ist massiv gefährdet.
Vor allem Arbeitgeber reden den Standort permanent schlecht.
Wir reden nicht schlecht, wir warnen. Noch kann man in Deutschland immer noch besser leben und arbeiten als in vielen anderen Ländern. Doch besonders bei den Investitionen ändert sich das gerade. Unsere Geschäftspartner im Ausland fragen mich immer häufiger, was ist denn bei Euch in Deutschland los? Es geht darum, dass wir hier wettbewerbsfähig bleiben. Das ist auch die Aufgabe für uns Sozialpartner.
Die IG Metall möchte mehr Zeitsouveränität; das sollte in Ihrem Sinne sein, um Arbeitsplätze attraktiver zu machen.
In unserer Industrie setzen wir schon lange auf Arbeitszeitflexibilität und können das auch in den Betrieben individuell ausbauen, in denen es beide Seiten wollen. Immer neue tarifliche Pauschalansprüche wären allerdings das falsche Signal. Und was überhaupt nicht geht, ist eine Reduzierung des Arbeitsvolumens.
Sind die Unternehmen attraktive Arbeitgeber?
Die hohen Tarifeinkommen habe ich erwähnt. Und wir sind in ganz vielen Bereichen immer noch weltweit führend, dazu gehört trotz der aktuellen Schlagzeilen die Autoindustrie und auch die Elektroindustrie mit sehr anspruchsvollen Arbeitsplätzen. Damit das so bleibt, brauchen wir engagierte und motivierte Belegschaften in den Betrieben. Dafür werben wir, denn andere Väter haben auch hübsche Töchter.
Das Interview mit dem Präsidenten von METALL NRW, Arndt G. Kirchhoff, erschien am 9. September in der Print-Ausgabe des Tagesspiegel sowie digital unter: